Geschichte der Stadtentwässerung
Von den Anfängen bis in die 1910er Jahre
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Abwässer direkt in die das Stadtgebiet durchziehenden Flussarme geleitet. In den Straßen gab es offene Rinnen, sogenannte Klingen, in denen die Abwässer und sonstiger Unrat mit Gerawasser zurück in den Fluss gespült wurden. Wegen des geringen Gefälles und der rechteckigen Querschnitte der Rinnen war die Ableitung nur unzureichend, die Entsorgungsbedingungen hatten unmittelbaren Einfluss auf die Wasserversorgung und die hygienischen Verhältnisse.
Die Folgen der Choleraepidemie von 1866 und die Erkenntnisse über die Zusammenhänge mit der Entsorgungssituation führten auch in Erfurt zum Umdenken und so wurde am 8. Mai 1876, erheblichen Widerständen zum Trotz, mit dem Bau der Flachkanalisation begonnen. Die Tonrohre mit Durchmessern von 100 bis 450 mm folgten im Wesentlichen dem Verlauf der Klingen und werden noch heute bei Grabungsarbeiten in der Innenstadt gefunden. Es entstanden zu dieser Zeit in Erfurt die ersten unterirdischen Kanäle aus gemauertem Bruchstein und mündeten auf kurzen Strecken direkt in die Gera und deren zahlreiche Nebenarme.
Regen- und Haushaltsabwässer wurden fortan unterirdisch abgeführt. Die Häuser erhielten Hausanschlüsse für die Küchen- und Waschwasser.
Schmutz und Gestank - in den Straßen gebannt - wurden auf die Flüsse verlagert. Die städtische und infrastrukturelle Entwicklung verlangte neue Wege der Abwasserableitung und -reinigung. 1896 wurde mit dem Bau tiefer liegender, mannshoher Sammelleitungen aus Mauerwerk begonnen, die das Abwasser im freien Gefälle bis zur 1911 fertig gestellten Kläranlage in der Riethstraße transportierten. Es verschwand nach und nach das Abwassereinleiten in offene Gewässer. Das entstandene Entwässerungsnetz - als Mischsystem konzipiert - wurde bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts ausreichend bemessen.
Von 1920 bis 1990
Die Ausdehnung der Stadt in der Gründerzeit, in den Jahren von 1920 bis 1940, ab 1960 und die Entstehung der großen Wohngebiete ab 1975 erforderten das Mitwachsen des Kanalnetzes. Bis 1970 wurde das klassische Mischsystem (Schmutz- und Regenwasser werden in einem Kanal abgeleitet) angelegt. Die großen neuen Wohngebiete erschloss man im Trennsystem mit separaten Kanälen für Schmutz- und Regenwasser.
Ab 1976 wurde zudem immer mehr Abwasser in Richtung der neu gebauten zentralen Kläranlage in Kühnhausen transportiert. Mit der Ausdehnung der Stadtteile Richtung Norden war eine zentrale Entwässerung zur Riethstraße immer ungünstiger geworden und die inzwischen von der Stadt umschlossene bisherige Kläranlage bot nur geringe Erweiterungsmöglichkeiten. Die Kläranlage in der Riethstraße wurde 1988 vollständig stillgelegt.
1990 betrug die Länge des Kanalnetzes ungefähr 490 Kilometer.
Nach 1990
In den Jahren nach der Wiedervereinigung war es erforderlich, das Kanalnetz an neue gesetzliche Regelungen und die sich deutlich ändernde Umweltgesetzgebung anzupassen. Sukzessive wurde der Anschlussgrad erhöht, wurden Frachteinträge in Gewässer aus Regenüberläufen reduziert und baulich Rückhalteraum geschaffen. Gleichzeitig wurden die aus Eingemeindungen entstandenen neuen Ortsteile abwassertechnisch erschlossen, Kläranlagen und Sammelgruben abgelöst.
Heute beträgt die Länge des Erfurter Kanalnetzes über 900 Kilometer.
Aktuelle Herausforderungen liegen in der immer aufwendigeren weiteren Erhöhung des Anschlussgrades und der weiteren Reduzierung von Frachteinträgen in die Gewässer.
Mit der Änderung der klimatischen Bedingungen werden frühere hydraulische Bemessungen immer mehr durch häufigere starke Niederschlagsereignisse herausgefordert. Hitze und Trockenheit prägen gesellschaftliche Themen und Anpassungsprozesse. So kommt ein Paradigmenwechsel der gesamten Entwässerungsbranche zum Tragen: Weg von der leitungsgebundenen Ableitung von Regenwasser, hin zur dezentralen Regenwasserbewirtschaftung. Das anfallende Regenwasser wird vor Ort zurückgehalten, gespeichert, versickert und verdunstet.